Barmherzig
Predigt am 4.Sonntag nach Trinitatis - 28. Juni 2015
Pfarrer Detlev Schuchardt, Bad Lippspringe
I.Reihe: Lukas
6,36-42
Seid barmherzig, wie auch
euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch
nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein
volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in
euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird
man euch wieder messen. Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann
auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle
beide in die Grube fallen? Der Jünger steht nicht über dem Meister;
wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du
aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem
Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder:
Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen,
und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler,
zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den
Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Friede sei
mit euch und die Gnade Gottes in Jesus Christus. Amen.
Liebe
Schwestern und Brüder,
Klassentreffen – ich sehe die anderen
aus meiner Schulklasse wieder und denke: Mensch, sind die aber alle
alt geworden! Und haben die zugenommen! Und haben die Männer weniger
Haare! Und dann sehe ich mich selbst auf einem alten Foto - kennen
Sie das?
Oder im Martinstift: Herr Kurbjuweit nimmt mich am
Arm beiseite und sagt leise: „Herr Pastor, hier gefällt es mir aber
nicht?“ „Warum denn nicht?“ frage ich erstaunt. „Na sehen Sie selbst
– nur alte Leute!“ Herr Kurbjuweit ist 97 Jahre alt.
Humorvolle Beispiele für das, was Jesus meint: „Was siehst du den
Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge
nimmst du nicht wahr?“ „Seid barmherzig, wie auch euer Vater
barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht
gerichtet.“
Es gibt auch wesentlich unangenehmere Beispiele,
wenn man sich gegenseitig mit ganz unterschiedlichen Maßstäben
misst. Etwa die Schuld immer beim andern sucht – und sich selbst für
fehlerlos hält.
„Ich habe nie verstanden, dass Menschen sich
scheiden lassen“, sagte mir ein Gemeindeglied. „Ich habe die richtig
verachtet. Bis sich meine Tochter hat scheiden lassen. Jetzt sehe
ich, wie dumm und verständnislos ich gedacht habe.“
Wo wir
voll Ignoranz das verdammen, was wir nicht kennen, uns selber aber
in den Himmel heben – da ist von Gottes Barmherzigkeit nichts zu
spüren. Wer meinen wir denn, wer wir sind? Wenn Gott uns für unsere
Taten oder auch fehlenden Taten unbarmherzig zur Rechenschaft ziehen
würde - uns wäre längst der Lachen und auch das Richten der anderen
vergangen. Ist es nicht so? „Behandle den andere so, wie du
behandelt werden möchtest!“ Und niemand möchte auf Dauer
gemaßregelt, angemeckert, von oben herab behandelt werden. Von dem
Finger, der auf andere zeigt, zeigen drei auf einen selbst zurück.
Und - am Freitag beim Schulgottesdienst in Marienloh – habe ich
wieder das Gesicht entdeckt, das in den Predigtstein, das Ambo, in
der katholischen Kirche eingemeißelt ist: Ein Gesicht, bei dem zwei
Finger sich an die eigene Nase fassen – Wer hier predigt, heißt das,
der fasse sich zunächst an die eigene Nase, bevor er mit Fingern auf
andere zeigt.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater
barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht
gerichtet.“ Bei Gott ist die Barmherzigkeit keine hin und wieder an
großen Feiertagen zusätzliche Geste – nein, Gott ist die
Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist Gottes ständige Grundhaltung,
sein grundsätzliches Wesen überhaupt. Das hat Martin Luther noch
einmal ganz neu entdeckt. Dank sei ihm dafür. Gott ist die
Barmherzigkeit. Gott belohnt oder bestraft nicht, er spricht frei.
Gott schaut nicht wie ein Richter oder Polizist, sondern wie der
barmherzige Vater, die barmherzige Mutter. Leidenschaft und
kompromisslos voller Liebe. So ist Gott.
Und so möchte er,
dass wir auch miteinander umgehen. Barmherzig. Zu anderen. Ja,
natürlich. Gutes für andere tun. Spenden für Notleidende z.B. – das
funktioniert noch eigentlich am besten. Wir wissen, dass dies unsere
moralische Pflicht ist und kommen ihr durchaus auch nach.
Deutschland ist das spendenfreudigste Land der Welt.
Aber
Gott möchte, dass wir auch barmherzig mit uns selbst umgehen. DAS
ist schon schwieriger. Wer kann sich schon ein eigenes Versagen,
eigene Schwächen, eigene Fehlleistungen verzeihen. Bei anderen: JA!
Aber bei sich selbst … Dann lieber die eigenen Schwächen verstecken,
verleugnen, relativieren: Ja, die anderen, die sind ja noch viel
schlimmer, ich bin ja nur ein kleiner Sünder …
Gott ist
Barmherzigkeit. Ach, lernten wir doch nur noch viel mehr diesem
barmherzigen Gott trauen. Er kennt uns durch und durch – mit unseren
Abgründen, mit unseren großen Fehlleistungen. Und er liebt uns durch
und durch. Immer wieder und immer neu. Könnten wir mehr darauf
vertrauen, wir wären auch barmherziger zu uns selbst.
Und
dieses „Zu-Sich-Selbst-Barmherzigsein“ – das ist, so unser
Predigttext, die eigentliche Voraussetzung, auch mit anderen
barmherzig umgehen zu können. „Was war ich dumm und verständnislos
mit meiner Meinung über Geschiedene!“ Wer das so offen und ehrlich
sagen kann, ist mutig und hat eines begriffen: Das Zugeben von
eigenen Fehlern ist der Beginn von neuen Erkenntnissen.
Ich
habe manchmal den Eindruck, wir leben in einer Zeit, da traut sich
kaum noch jemand, Schwächen zugeben zu dürfen. Das wird dann gleich
gnadenlos ausgenutzt: Im Beruf, in der Familie, im Freundeskreis. Es
wird pausenlos auf anderen herumgehackt: Dieser hat das gemacht,
jener kann dies nicht und überhaupt, was haben die anderen nun
wirklich keine Ahnung.
Ich meine, dies geschieht
hauptsächlich, um von eigenen Schwächen abzulenken. Je mehr die
anderen die Dummen sind, desto mehr stehe ich gut da und desto
weniger fallen meine Fehler auf. Ich habe vorhin gesagt: Wir haben
Angst, dass unsere Schwächen gnadenlos ausgenutzt werden.
Ich
habe dieses Wort: „Gnadenlos“ bewusst gewählt. Denn das zeigt, wie
wenig wir dem gnädigen Gott der Barmherzigkeit trauen. Ja, Menschen
sind oft gnadenlos. Auch wir sind oft gnadenlos zu anderen und auch
zu uns selbst. Aber Gott ist ein Gott der Gnade. Seine
Barmherzigkeit befreit zu fröhlichem Vergeben und offene Stehen zu
eigenen Fehlern. Ein von Gott befreiter Menschen muss andere nicht
pausenlos und gnadenlos klein machen. Ein von Gott befreiter Mensch
kann andere so sein lassen, wie sie sind. Im anderen nicht meinen
Konkurrenten zu sehen, sondern jemanden, der vielleicht sogar etwas
besser kann als ich – das ist das Gegenteil von gnadenlos. Das kann
jemand, der Gottes Barmherzigkeit und Gnade traut und sie für sich
und andere gelten lässt.
Zum Abschluss diese kleine
Geschichte:
„Es gibt eine Kirchengemeinde in England, die an
jedem Neujahrstag einen Abendmahlsgottesdienst mit drei
Nachbargemeinden feiert. Und deshalb kommen Menschen zusammen, die
normalerweise einander nicht sehen. Als der Pfarrer bei dem
Abendmahl Brot und Kelch verteilte, fiel es ihm auf, dass zwei
Männer nebeneinander gekniet hatten, die gegensätzliche
Lebensgeschichten hatten. Der eine war ein ehemaliger Einbrecher;
neben ihm befand sich ein Richter des obersten Gerichtshofs. Und
durch einen erstaunlichen Zufall hatte es sich so ergeben, dass
dieser Richter den Mann neben ihm ins Gefängnis geschickt hatte.
Nachdem der Einbrecher 7 Jahre im Gefängnis verbrachte und entlassen
wurde, hatte er ein Bekehrungserlebnis und wurde ein aktiver
christlicher Mitarbeiter. Nach dem Gottesdienst sprach der Richter
den Pfarrer an und fragte: „Haben Sie gemerkt, wer bei der
Abendmahlsausteilung neben mir gekniet hat?“ Der Pfarrer erwiderte:
„Ja, der Mann und sein Lebensablauf sind mir bekannt.“ Der Richter
sagte: „Was für ein Wunder der Gnade!“ Der Pfarrer stimmte zu: „Ja,
das war schon ein großartiges Wunder der Gnade.“ Der Richter fragte:
„Aber von wem reden Sie?“ Der Geistliche sagte: „Ich rede natürlich
von der Bekehrung des ehemaligen Häftlings.“ Der Richter sagte:
„Aber ich habe nicht den Häftling gemeint, sondern mich selbst. Denn
dieser ehemalige Einbrecher wusste, wie sehr er auf die Gnade Gottes
angewiesen war; er hatte eine kriminelle Lebensgeschichte. Es war
für ihn naheliegend, anzuerkennen, dass er erlösungsbedürftig ist.
Er wusste, dass er Hilfe braucht. Aber schau mich an. Von Kindheit
an lernte ich Anständigkeit und Höflichkeit. Ich lernte, mein Wort
zu halten, regelmäßig zu beten, in die Kirche zu gehen und das
Abendmahl nicht zu vernachlässigen. Ich besuchte Oxford, wurde
Anwalt und Richter. Nur ein Wunder der Gnade Gottes konnte mich
überzeugen, dass ich genauso erlösungsbedürftig bin wie dieser
ehemalige Einbrecher. Ich brauchte viel mehr Gnade als er, um meinen
Stolz und meine Selbst-Täuschung zu überwinden und Vergebung
anzunehmen. Ich brauchte ein Wunder der Gnade um einzusehen, dass
ich in den Augen Gottes nicht besser bin als dieser ehemaliger
Häftling, den ich ins Gefängnis schickte.“
(Aus einer Predigt von
Phil Schmidt, 2003 Ev.-Luth. Dreikönigsgemeinde
Frankfurt-Sachsenhausen)
Amen.
© Ev. Kirche Bad Lippspringe 28.06.15